Porträt: Josef Hell. Er lächelt freundlich zugewandt. Er hat kurzes, graues Haar und trägt eine große schwarze Brille.
Claudia Michels

Sicherheit, Schutz und (Frei-)Raum

ls Palliativmediziner will Josef Hell schwerstkranken Menschen „möglichst viel Alltag zurückbringen“. Da kann ein Gespräch über Fußballergebnisse genauso wichtig sein wie die Schmerzbehandlung. Josef Hell arbeitete in Krankenhäusern, engagierte sich in der Hospizbewegung, brachte wichtige Modellprojekte auf den Weg. Heute ist er wieder an der Basis aktiv, in der ambulanten Palliativversorgung: „Meine Leidenschaft“, sagt er, und: „Meine Erntezeit.“ Seine vielfältige Erfahrung setzt Josef Hell nun in einem SAPV-Team ein.

Arzt mit viel Seelsorge-Anteil

Als Josef Hell ein Kind war, auf dem Land, nahe Mühldorf am Inn, fand man ihn oft zwischen Salatbeet, Gurkenranken und Bohnenspalier. Sein Opa bewirtschaftete einen Gemüsegarten, der kleine Josef half begeistert mit; mit 13 bekam er sein eigenes kleines Gewächshaus. Später machte er ein Praktikum bei einem Gärtner. Dessen Tochter studierte Medizin und breitete ihre dicken Lehrbücher und Nachschlagwerke auf dem Tisch aus. Josef schaute ihr über die Schulter und fing Feuer. „Biologie und das Leben haben mich total fasziniert. Schon als Kind habe ich immer gesagt: Ich will Pfarrer oder Doktor werden!“ Und ziemlich genau das wurde Josef Hell auch. Er ist heute Palliativmediziner, ein „Doktor“ also – mit ganz viel Seelsorge-Anteil.

Nach dem Abitur nutzte Josef Hell seinen Zivildienst für eine Ausbildung zum Pflegehelfer. Anschließend studierte er Medizin, nebenher arbeitete er drei Jahre lang in der Pflege. Während seiner Facharztausbildung in der Anästhesiologie lernte er, Schmerzen auszuschalten und das Herz-Kreislauf-System aufrechtzuerhalten – während Operationen genauso wie in der Notfall- und Intensivmedizin.

Auf der Intensivstation: über Leben und Tod entscheiden

Auf der Intensivstation erlebte Josef Hell immer wieder, dass Patienten monatelang beatmet wurden. Nur wenige überlebten, meist schwer pflegebedürftig. Von Medizintechnik am Leben erhalten werden, ja oder nein? Es waren die späten 1990er Jahre. Muster für Patientenverfügungen gab es schon, sie waren auch rechtlich bindend, doch erst 2009 erhielt die Patientenverfügung eine gesetzliche Grundlage – und wurde in der breiten Öffentlichkeit bekannter..  Davor musste das behandelnde Team, in Abstimmung mit völlig überforderten Angehörigen, für (zum Beispiel bewusstlose) Patientinnen und Patienten oft buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. „In der Intensivmedizin gab es damals viele Therapieziel-Entscheidungen“, fasst Josef Hell zusammen. „Die Patientenautonomie stand noch am Anfang.“

Kurz erklärt: Patientenverfügung

Was tun, wenn ich – nach einem Unfall oder wegen einer Krankheit – nicht selbst entscheiden kann, wie ich behandelt werden möchte? Lebenserhaltende Maßnahmen, ja oder nein? Künstliche Ernährung? Schmerzbehandlung? In einer Patientenverfügung können Sie festlegen, welche Behandlung Sie wünschen oder ablehnen. Die Verfügung gibt den behandelnden Ärztinnen und Ärzten eine klare Orientierung – und entlastet Angehörige in schwierigen Entscheidungen. Hier erfahren Sie mehr über wichtige Dokumente wie die Patientenverfügung und die Vorsorge-Vollmacht.

Von der Sinnfrage zur Palliativmedizin

Den jungen Arzt trieben grundlegende Sinn- und Seinsfragen um: Was macht den Menschen aus? Was zählt am Ende für jeden Einzelnen: mehr Lebenstage? Mehr Lebensqualität? Von diesen Fragen war der Weg kurz zur Hospizbewegung. Als sein Ausbildungschef 1995 in Mühldorf einen Hospizverein gründete, war Josef Hell mit an Bord. Parallel zum Arztberuf engagierte er sich immer stärker in der Hospizbewegung, später sollte er auch auf Landes- und Bundesebene mitmischen und Verantwortung übernehmen.

Nach acht Jahren als Anästhesist entschied sich Josef Hell für den entscheidenden Schritt. Am Palliativzentrum des Klinikums Großhadern (München) machte er eine klinische Weiterbildung zum Palliativmediziner. Zwei Jahre lang sammelte er Erfahrungen und forschte zu dem noch jungen Fachgebiet. Nun ging es für ihn nicht mehr darum, Leben zu verlängern, sondern die Lebensqualität schwerstkranker Menschen zu verbessern. Herauszufinden, was Menschen wirklich belastet – an Körper, Geist oder Seele – und die Last zu lindern.

Palliativmedizin

… ist (noch) keine Facharztausbildung. Fachärztinnen und Fachärzte aus anderen Bereichen (wie Anästhesie, Innere Medizin oder Allgemeinmedizin) können sich in Palliativmedizin weiterbilden. Die Inhalte reichen von der Behandlung von körperlichen Symptomen bis zur Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer. Erfahren Sie hier mehr über Palliativmedizin und Palliativpflege.

Mit viel frischem Wissen und breiter praktischer Erfahrung ging Josef Hell zurück nach Mühldorf. Gegen die Palliativmedizin gab es damals noch viele Vorbehalte, auch unter Kolleginnen und Kollegen. Einen Menschen nicht mit allen Mitteln am Leben zu erhalten: Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung? Nein, jeder Mensch kann (und sollte frühzeitig!) selbst entscheiden, ob er lebenserhaltende Maßnahmen wünscht. Ist Palliativmedizin womöglich so etwas wie assistierter Suizid (= Hilfe zur Selbsttötung)? Nein, genau das Gegenteil: Indem sie den ganzen Menschen unterstützt – ob körperlich, psychisch, seelisch oder sozial –, Leiden lindert und Lebensqualität stärkt, bietet die Palliativmedizin ein Gegenkonzept zum Suizid.

Josef Hell zeigt eine Schmerzpumpe: ein Kästchen mit einem Display und einem Bedienfeld mit sechs großen Tasten.

Hier erklärt Josef Hell, wie eine Schmerzpumpe funktioniert. Sie wird einfach an den Infusions-Katheter angeschlossen; das funktioniert auch prima in der ambulanten Palliativversorgung. Das Palliativ-Team stellt die Dosierung ein; der Körper wird dann regelmäßig mit dem nötigen Schmerzmittel versorgt. Reicht die Dosis nicht aus …

Nahaufnahme der Schmerzpumpe. Das Display zeigt einen roten Balken und den Hinweis: „kontinuierlich“.

… können die Patientin, der Patient oder auch Angehörige mit einem einfachen Knopfdruck eine weitere Dosis auslösen – bis zu viermal pro Stunde. Die Schmerzpumpe macht schwerkranke Menschen unabhängiger von Arztbesuchen und gibt ihnen Sicherheit und Selbstbestimmung.

Thema 1 von 2

Geduldig arbeitete Josef Hell – so wie tausende weiterer ehren- und hauptamtlicher Akteure – gegen Vorurteile und Widerstände an, suchte das Miteinander, bot Austausch und Unterstützung. Heute, rund 20 Jahre später, gibt es in Bayern flächendeckend Hospizvereine. Ihr Angebot ist bekannt und hoch anerkannt, die Nachfrage nach hospizlicher Begleitung und Palliativversorgung riesengroß. Josef Hell hat in seiner Heimatregion, dem Landkreis Mühldorf, allerhand bewegt, viel beachtete Modellprojekte angeschoben (mehr erfahren: Palliativ-WG und mehr Pflege-Zeit im Altenheim).

Inzwischen arbeitet Josef Hell wieder in München, an der Basis, wie er selbst sagt: in einem SAPV-Team. SAPV steht für Spezialisierte ambulante Hospizversorgung. Sie ist eine Leistung der Krankenkassen für Menschen mit stark belastenden Symptomen am Lebensende. In SAPV-Teams arbeiten Pflegekräfte und Palliativmedizinerinnen und -mediziner.

Sich Zeit nehmen und Zeit geben

Doch zurück in die frühen 2000er Jahre, ans Palliativzentrum des Klinikums Großhadern. Seine Zeit dort betrachtet Josef Hell rückblickend als Geschenk. Plötzlich hatte er Zeit für die Menschen. Die gab er weiter. Bei der Visite setzte er sich auf einen Hocker neben das Krankenbett. So sprach er mit den Menschen nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Und gab zugleich das Signal: „Ich bringe Zeit mit.“

Der angehende Palliativmediziner lernte auch, Gespräche mit schwerstkranken Menschen zu führen. „Was ist Ihre größte Sorge?“ Diese Frage stellt Josef Hell oft. `Sorge´: In diesem Wort stecke viel mehr drin als in `Angst´, erklärt er. Nicht nur die Furcht vor Schmerzen und Tod. Sondern die Sorge um die Familie, den Jobverlust, finanzielle Probleme. Wer kümmert sich zu Hause um mich? Wer fängt die Kinder auf, wer betreut die demenzkranke Partnerin? Oder auch: Wer nimmt das Haustier, wenn ich mal nicht mehr bin. Um all diese Sorgen kümmern sich in stationären wie ambulanten Hospiz- und Palliativ-Teams die Fachkräfte aus verschiedensten Berufsgruppen:  Pflege, Soziale Arbeit, Therapie und Seelsorge.

Josef Hell im Interview. Er spricht und hebt die Hände zu einer Erklärung.

Als Palliativarzt und Dozent für Palliative Care ist Josef Hell ein guter Redner. Mindestens genauso wichtig ist für ihn das Zuhören – und das Schweigen.

Claudia Michels

Anders fragen, gut zuhören …

Josef Hell denkt an eine junge Patientin, Mutter eines kleinen Sohnes. Sie weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird. Es ist Sommer. Im September wird ihr Sohn eingeschult. Will sie es noch schaffen, den großen Tag ihres Kindes miterleben? Das fragt Josef Hell nicht. Sondern eben: Was ist Ihre größte Sorge? Und dann sagt die junge Frau ganz unvermittelt: `Dass ich lebendig begraben werde.´ Josef Hell hält kurz inne in seiner Schilderung, schaut nach oben. „Wir wissen nie, was Menschen quält.“

Ganz genau schildert er seiner Patientin, was geschieht, wenn ein Mensch gestorben ist. Wie man für tot erklärt wird, wie die Leichenschau abläuft. Er verspricht ihr, selbst noch einmal bei ihr nachzuschauen. Die junge Frau hört sehr genau zu. „Ich vertraue Ihnen“, sagt sie schließlich. Dann lässt sie ihren kleinen Sohn vom Opa ins Krankenhaus bringen und verabschiedet sich von ihm. Drei Stunden später ist sie tot. „Zuhören können“, sagt Josef Hell, „ist eine Eigenschaft, die man entwickeln muss.“

„Was ist Ihre größte Sorge? In diesem Begriff steckt viel mehr drin als in `Angst´. Er erfasst alle Dimensionen.“

Oft sagt Josef Hell auch gar nichts. Pausen im Gespräch zulassen, Pausen aushalten: auch das ist Palliativmedizin. „Ich setze mich hin, nehme vielleicht die Hand, und dann sagt der Patient plötzlich: Mei, Herr Doktor, des hob‘ i no nie jemand erzählt …“ Pausen sind schwierig, aber sehr, sehr gut. Schwierig, weil man sie aushalten muss. Und gut, denn: „Danach kommt das eigentliche Thema. Dann kommen Sätze wie: Ich habe von meiner Tochter schon so lange nix gehört.“

Menschen halten und auch wieder loslassen

Eines Mittags, noch in Großhadern, unterhielt sich Josef Hell in der Mittagspause mit einer Atemtherapeutin. „Warum machen wir das eigentlich, Palliativmedizin“, fragt er halb sie und halb sich selbst. „Die Atemtherapeutin sagte: `Ich glaube, das ist das Tote in uns.´ Diese Antwort hat mich in dem Moment total überfordert. Aber sie war natürlich auf den Punkt. Viele Menschen gehen aus ihrer persönlichen Geschichte heraus in die Palliativmedizin.“

Josef Hell war 22, als sein schwerkranker Vater in seinen Armen erstickte. „Ich war Medizinstudent, ich konnte ihm nicht helfen.“ Heute kann Josef Hell helfen. Als Anästhesist hat er viele Leben gerettet. Und als Palliativmediziner lindert er Leiden und gibt vielen Leben mehr Qualität.

Sicherheit, Schutz und (Frei-)Raum geben

In seinen ersten Berufsjahren war Josef Hell von jedem Sterben sehr betroffen, ganz besonders bei jungen Menschen. Nach und nach nahm er eine Haltung ein, die er professionelle Nähe nennt. „Das habe ich inzwischen sehr präsent im Bewusstsein: Dass ich wieder loslasse.“

Josef Hells Leben ist von schweren Erschütterungen geprägt. Aber auch davon, wieder Halt gefunden zu haben, Gutes, Beglückendes. In die Arbeit mit schwerstkranken, sterbenden Menschen lässt der Mediziner seine persönlichen Erfahrungen einfließen. Wie heilsam es sein kann, sich Lebenslügen zu stellen, sich nicht wegzustehlen, Tabuthemen offen anzusprechen. Und auch: Sicherheit zu geben, Schutz – und den Raum für alles, was noch gesagt, erledigt und erlebt werden will.

„Mit dem, was ich erleben musste, kann ich jetzt anderen helfen“, sagt Josef Hell. „Das gibt für mich den Sinn. Die dunklen Seiten werden wieder heller.“ Doch der Arzt warnt auch: In der Palliativversorgung zu arbeiten „lenkt super von einem selber ab.“ Wer allein aus der Hilfe für andere seinen Selbstwert beziehe, sei falsch im Beruf.

Alltag zurückbringen. Ins Sterben? Genau!

Während seiner Weiterbildung am Klinikum Großhadern behandelte Josef Hell einen Mann, der mit starken Beschwerden auf die Palliativstation kam. Ziemlich schnell konnte der Arzt die Symptome lindern. „Am dritten Tag kam ich zu dem Patienten ins Zimmer und er fragte mich gleich, wie die Bayern gespielt haben.“ Josef Hell ging aufs Fußballthema ein. Doch es fühlte sich seltsam an: Sollten sich Gespräch mit Schwerstkranken nicht um die großen Lebensfragen drehen?

„Es sind oft nicht die großen Dinge, die uns Halt geben. Sondern die ganz kleinen.“

 „Ich bin danach zu einer Kollegin gegangen und habe gefragt, ob ich wirklich die richtigen Themen setze.“ Die erfahrene Palliativmedizinerin nickte. Wer über Fußball, TV-Shows, das Lieblings-Shirt oder den neuesten Aufreger in Sozialen Netzwerken plaudern möchte, ist raus aus der Angstspirale und wieder mitten im Alltag. Ein gutes Zeichen. Josef Hell lacht. Menschen den Alltag zurückbringen: Das ist für ihn heute das Ziel. „Es sind oft nicht die großen Dinge, die uns Halt geben, sondern die ganz kleinen.“