Auf einem Tisch liegt ein Museums-Ticket. Daneben steht ein Becher mit Herz und der Aufschrift: „Anti-Stress-Becher“.
Claudia Michels

Nähe. Vertrauen. Erinnerungen.

Ambulante Palliativteams betreuen jedes Jahr hunderte schwerstkranke Menschen zu Hause. Der Job ist Routine – und doch jedes Mal einzigartig. Einige Menschen berühren Palliativfachkraft Julia Knoll besonders. Wie zum Beispiel eine krebskranke Patientin – nennen wir sie Frau P. Dies ist die Geschichte ihrer letzten Lebenswochen. Und auch ein Teil der Geschichte von Julia Knoll.

Gegen Atemnot und Angst

Als Palliativfachkraft Julia Knoll sie zum ersten Mal zu Hause besucht, ist Frau P. Mitte 60 und schwer krank. Sie hat Brustkrebs und Metastasen überall im Körper. Auch ihr Herz ist sehr geschwächt. Sie trägt eine Defibrillator-Weste, die es im Notfall mit einem Elektroschock wieder zum Schlagen bringen soll.

In der Weste fühlt Frau P. sich eingeengt; ein beklemmendes Gefühl. Sie überlegt, sie abzulegen. Doch vorher möchte sie von Julia Knoll wissen, wie es ist, an Herzversagen zu sterben. Ihre größte Angst: zu ersticken. Angst belastet nicht nur die Seele, sondern auch den Körper. Sie kann einem Menschen buchstäblich die Luft abschnüren. Ein Teufelskreis aus Angst, die den Atem nimmt – und Atemnot, die Angst macht. Angst zu lindern, ist für die Palliativpflegerin genauso wichtig, wie Schmerzen in den Griff zu bekommen. Ihre Patientin ermutigt sie, bei starken Schmerzen und Atemnot anzurufen, rund um die Uhr.

Gut dosierte Opiate können das Luftholen erleichtern. Als Palliativfachkraft darf wie Julia Knoll sie verabreichen. Auch ganz einfache Verhaltensweisen können helfen: Ruhe bewahren. Die Fenster öffnen, frische Luft ins Zimmer lassen. Im Bett aufsetzen (ggf. mit Kissen unterstützen), auf dem Stuhl die „Kutscherhaltung“ einnehmen (die Ellbogen auf den Knien abstützen) oder stehend (z. B. am Rollator) den Körper aufrichten, dann kann der Atem besser fließen.

Aha! Opiate in der Palliativmedizin

Individuell dosierte Opiate (wie z. B. Morphium) unterstützen die Atemarbeit und helfen, ruhiger und tiefer zu atmen. Außerdem beruhigen Opiate und lindern die Angst. So können sie den Teufelskreis aus Atemnot und Panik durchbrechen. Hospiz- und Palliativprofis sind erfahren darin, die Opiate genau zu dosieren.

Palliative Sedierung? Gut zu wissen …

Julia Knoll klärt Frau P. und ihren Mann auch über die Möglichkeit einer palliative Sedierung auf. Dabei schalten starke Beruhigungs- und Schmerzmittel das Bewusstsein aus: Der kranke Mensch muss extrem belastende Symptome nicht bewusst erleben, nicht ertragen. Eine große Erleichterung für Frau P. Auch das Wissen um diese Option hilft ihr beim Luftholen.

Urlaubsreisen und Partynächte

Zwei ruhige Wochen zu Hause folgen. Frau P. kann sich entspannen, durchatmen. Sie schöpft Freude aus schönen Erinnerungen; gemeinsam mit ihrem Mann blättert sie in Fotoalben und erlebt gemeinsame Reisen noch einmal nach. Auch für Kunst und Kultur interessiert sich Frau P. Sie schickt Julia Knoll ins Münchner Stadtmuseum; dort soll sie sich eine Ausstellung über das Münchner Clubleben ansehen. Julia Knoll taucht ein in die Münchner Partynächte und teilt beim nächsten Besuch begeistert ihre Eindrücke mit Frau P.

Julia Knoll zeigt lächelnd eine Eintrittskarte fürs Münchner Stadtmuseum.

Ein toller Museumsbesuch, angeregt von ihrer Patientin Frau P.: Julia Knoll hat die Eintrittskarte aufgehoben. Sie erinnert die Palliativfachkraft an die gemeinsame Wegstrecke.

Claudia Michels

Was zuletzt wichtig ist

Bei der nächsten Kontrolluntersuchung zeigt sich: Die Chemotherapie schlug nicht an, die Metastasen in Lunge und Leber haben sich vermehrt. „Wir saßen alle am Esstisch“, erinnert sich Julia Knoll. „Frau P. hat stumm geweint. Schließlich fragte sie mich: Falle ich in ein Delir, wenn die Leber versagt? Ich bat sie, nicht im Internet zu recherchieren. Ich habe sie gefragt: Was ist für Sie jetzt wichtig?“ – „Mein Mann“, antwortet die Patientin. „Und die Zeit, die uns noch bleibt.“

Am nächsten Morgen trifft ihr Ehemann, selbst OP-Pfleger, die wohl schwerste Entscheidung seines Lebens. „Er nahm Abstand von der Idee, seine Frau bei einem Herzstillstand wiederzubeleben. Er weinte sehr. Doch er stimmte zu, seine Frau zu Hause zu begleiten “ 

„Man kann sich nicht vorbereiten aufs Sterben der Lieben. Man kann nur weinen und dann wieder weitermachen. Wir sind auch für die Angehörigen da. Auch dann, wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist.“

Als Julia Knoll eine Wochen später wieder einmal vorbeikommt, sitzt Frau P. im Sessel. Aufgrund der Herzschwäche hat sich Wasser in ihrem Gewebe gestaut, ihr Körper ist angeschwollen. „Frau Knoll“, sagt sie, „ich glaube, ich sterbe.“ – „Das ist der Moment, an dem Sie Julia zu mir sagen können“, antwortet Julia Knoll. Die beiden Frauen lächeln einander an.

Dann packt Julia Knoll ihre Patientin aufs Sofa. „Und sie hat ihren Fiffi vom Kopf gezogen und weggeschmissen.“ Eine Perücke, liebevoll „Fiffi“, tragen viele Frauen, die durch eine Chemotherapie die Haare verlieren. Äußerlichkeiten bedeuten Frau P. nichts mehr. Jetzt geht es um ihr Innerstes: um ihren Mann, den sie allein zurücklassen muss.

Frau P. will nur noch schlafen. Das Palliativ-Team legt Frau P. eine Schmerzpumpe. Über einen Port leitet sie alle nötigen Medikamente in den Körper. Patienten oder Angehörige können per Knopfdruck selbst zusätzliche Medikamentengaben auslösen. Julia Knoll ermutigt den Ehemann, „dass er beherzt auf den Knopf drücken darf.“

Julia Knoll im Gespräch. Sie hat eine nachdenkliche Miene.

Professionelle Distanz? Irgendwie trifft der Begriff auf die Arbeit von Julia Knoll und ihren Kolleginnen und Kollegen nicht zu. Die Pflege ist ein Mensch-zu-Mensch-Beruf, der viel bewegt und stark berührt – und auf gegenseitiges Vertrauen baut. Professionelle Nähe trifft es eher.

Claudia Michels

Noch ein bisschen streicheln

Drei Tage vor ihrem Tod streift Frau P. alle Kleider vom Körper. „Das tun manche Sterbende“, erklärt Julia Knoll. „Es wirkt dann, als wollten sie sich von allem Irdischen befreien.“ Frau P. sagt, sie fände es schön, noch tiefer zu schlafen. Die Palliativärztin dosiert die Schmerzpumpe höher. Julia Knoll fragt Frau P. was sie noch für sie tun könne. ‚Streichle mich ein noch bisserl´, wünscht sich die Patientin. Dann schläft sie ein. Später gleitet Frau P. in den Tod, ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen.

Frau P. war eine der wenigen, deren Beerdigung ich besucht habe“, erzählt Julia Knoll. Was sie als Profi immer wieder bewegt, ist das Vertrauen ihrer Patientinnen und Patienten. Als Fremde („Die eigentlich keiner haben will!“) kommt Julia Knoll in ihr Zuhause, in den privatesten Raum – und die Menschen vertrauen sich, ihr Leben und ihre Liebsten der Palliativfachkraft an.

„Ich habe meine Patientin gebeten, nicht im Internet zu recherchieren. Stattdessen habe ich sie gefragt: Was ist für Sie jetzt wichtig?“

Julia Knoll, Palliativ-Pflegefachkraft