Julia Knoll, lange, dunkle Haare, ruhiges, klares Gesicht.
Claudia Michels

Ein Pflege-Leben: Julia Knoll

Seit Jahrzehnten arbeitet Julia Knoll dort, wo Medizin und Pflege neue Herausforderungen annehmen, neue Wege gehen, ganz neue Angebote schaffen: in der Pflege AIDS-kranker Menschen, in der Intensivpflege, der Fort- und Weiterbildung, der Palliativpflege. Das Leben und Sterben begleitet sie seit Beginn ihrer Laufbahn. Heute trägt sie dazu bei, dass sterbende Menschen nicht länger, aber besser leben können.

Karrierestart auf der AIDS-Station

Nach dem Fachabitur wusste Julia Knoll, was sie nicht werden wollte: Krankenschwester, wie ihre Mutter. Sie bewarb sich um einen Studienplatz, wurde angenommen. „Aber dann wollte ich doch Geld verdienen. Und die Pflegeausbildung war gut bezahlt“, erzählt Julia Knoll trocken. Sie machte die Ausbildung zur Krankenschwester (heute: Pflegefachfrau) und stellte fest: Pflege ist für sie sehr viel mehr als ein Brotjob. Nach dem Staatsexamen startete sie auf einer AIDS-Station in München.

HIV-Infektion: vom fast sicheren Tod zum Leben ohne nachweisbare Virenlast

Es waren die frühen 1990er Jahre. Noch erkrankten die meisten HIV-infizierten Menschen an AIDS und starben, ausgezehrt, an vielfältigen schweren Infektionen durch Viren, Bakterien oder Pilze. Viele Erkrankte wurden wochen- und monatelang im Krankenhaus behandelt.. „Man kannte die Leute sehr gut.“ Manche Patienten und Patientinnen hatten ein riesiges Netzwerk, andere niemanden. Das Stationsteam kümmerten sich um Körper und Seele, packte soziale Probleme an und diskutierte ethische Fragen. „Die Pflegekräfte und Ärzte waren hier auf Augenhöhe.“

Julia Knoll sieht drei große Errungenschaften in der Geschichte der Medizin: „Händewaschen vor Entbindungen und operativen Eingriffen, Impfungen und AIDS-Medikamente! Schwule Männer ließen die ersten Medikamente an sich selbst testen. Es war magisch, als durch die Weiterentwicklung der Medikamente mit einem Mal die HIV-positiven Menschen nicht mehr erkrankten und alt wurden.“

Auf der AIDS-Station erlebte und gestaltete Julia Knoll eine Epoche der Medizingeschichte mit. Dann suchte sie eine neue Herausforderung – und wechselte in die Intensivmedizin. „Das hat mir gefallen, aber dort starben auch nicht weniger Menschen. Und Patientenverfügungen und Vorsorge-Vollmachten waren noch nicht so verbreitet.“ Gemeinsam mit den Angehörigen mussten die Stationsteams abwägen: Das Leben unbedingt erhalten oder die Geräte abschalten? Eine belastende Gratwanderung für die Verwandten und auch für die Profis aus Medizin und Pflege.

Erfahrung für mehr als ein Berufsleben

Wieder suchte Julia Knoll nach einer neuen Perspektive. Sie wechselte ins betreute Wohnen der Münchner AIDS-Hilfe und kümmerte sich dort um AIDS-kranke Menschen. Allmählich dämmten Safer Sex und Behandlungserfolge die AIDS-Epidemie in Deutschland ein. Immer mehr HIV-positive Menschen konnten ein selbständiges, weitgehend uneingeschränktes Leben führen. „Die brauchten uns nicht mehr.“

Das betreute Wohnangebot wurde für Menschen mit Tumorerkrankungen geöffnet; in Zusammenarbeit mit dem Christophorus Hospiz Verein (CHV) entstand ein stationäres Hospiz mit acht Betten. Wie kann man Begleiterscheinungen einer Krebserkrankung und die Nebenwirkungen der Therapie lindern? Wie kann man Atemnot behandeln, was hilft gegen massive Übelkeit? Welche Bedürfnisse und Wünsche haben die Betroffenen? Wie kann man Menschen in der letzten Lebensphase helfen? Durch die Arbeit mit AIDS-Patienten war das Betreuungsteam gut gerüstet – fachlich, menschlich und auch technisch.

Pflege, Geisteswissenschaften – wieder Pflege?

Lebenslanges Lernen ist Julia Knolls Ding. Sie wollte sich weiterentwickeln, sich neue Ziele setzen – und startete eine Heilpraktiker-Ausbildung, nebenberuflich. „Aber ich bin immer durchgefallen.“ Sollte sie sich ganz auf die Sache konzentrieren, nochmal von vorne beginnen und Medizin studieren? „Aber ich war nicht überzeugt. Es ist immer noch ein hoher Preis, den Ärztinnen für ihre Karriere zahlen.“

Julia Knoll hatte Erfahrung für mehr als ein Berufsleben gesammelt – und war doch gerade erst 29 Jahre alt. Da entschied sie: „Jetzt mache ich mal, wozu ich Lust habe!“ An einer Berufsoberschule holte sie die Hochschulreife nach und studierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Fünf Jahre lang war sie an der Uni, ihr Studium finanzierte sie als Dozentin in der politischen Bildung, als Verkäuferin und als Putzfrau.

Lehren und pflegen: ein perfektes Match

Nach ihrem Magister-Abschluss arbeitete sie weiter als Dozentin, außerdem als Referentin an einer Bildungsakademie und als Pflegefachkraft in der Eingliederungshilfe und im Betreuten Wohnen für Menschen mit Behinderung. Menschen praktisch unterstützen und Menschen unterrichten: für Julia Knoll ein perfektes Match. Zu ihren Schwerpunkten in der Erwachsenenbildung gehören Leben und Sterben, Kommunikation, Ethik, Menschenrechte und Interkulturalität.

Angekommen: im Hospiz- und Pallativpflege-Team

Mit der Hospizbewegung kam Julia Knoll in ihrer Pflege-Laufbahn immer wieder in enge Berührung. 2020 kehrte sie nach 15 Jahren wieder zum Christophorus Hospiz Verein (CHV) zurück – diesmal nicht ins stationäre Hospiz, sondern ins ambulante Hospiz- und Palliative Care-Team. Sie übernahm zunächst die Anfragen-Koordination. Inzwischen betreut sie auch wieder direkt Patientinnen und Patienten – und ist in der CHV-Bildungsarbeit tätig.

Im Austausch mit dem unheilbar kranken Menschen und/oder den Angehörigen, mit Hausärztin/Hausarzt und den Fachdiensten klärt Julia Knoll, ob eine ambulante Hospiz- und Palliativbegleitung möglich und nötig ist. Falls ja, kommt das Hospiz- und Palliative Care-Team zu den Patientinnen und Patienten nach Hause. Oder auch in Alten- und Pflegeeinrichtungen, Wohnheime oder Flüchtlingsunterkünfte. Dort unterstützen und beraten die Palliativprofis bei Bedarf das Pflegeteam und leiten Fachkräfte zu konkreten Maßnahmen an.

Julia Knoll im Gespräch.

Hospiz- und Palliativkräfte müssen das Sterben aushalten. Und wenn sie dem Sterben auch mehr Leben geben können: Leicht ist das nicht. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen hat Julia Knoll daher ein zweites Standbein. Sie arbeitet in der Erwachsenenbildung.

Claudia Michels

An vier Nächten pro Monat oder an einem Wochenende übernimmt Julia Knoll den Rufdienst. Mal klingelt ihr Handy, mal bleibt es still. Dann weiß sie: Ihre Patientinnen und Patienten haben eine ruhige Nacht: ohne schlimme Schmerzen, Übelkeit oder Atemnot, ohne Angstattacken. Vielleicht schlafen sie sogar richtig gut, wie eingehüllt in einen schützenden, behütenden Umhang. Der heißt im Lateinischen „pallium“. Genau von diesem Begriff leitet sich die Palliativbewegung ab. Und das Engagement vieler tausend Hospiz- und Palliativfachkräfte – wie Julia Knoll,  die nicht Krankenschwester werden wollte, vielfältige Wege einschlug und immer wieder zur Pflege zurückkehrte.

Verschwenden Sie keine Zeit, zum Beispiel mit dem falschen Job oder den verkehrten Leuten. Was zählt am Ende? Die Menschen, die uns begegnen!“

Julia Knoll, Palliativfachkraft