Mehr Pflege-Zeit. Und eine ganz besondere WG
Überall in Deutschland stiften Hospizvereine Sinn. Oder genauer: ihre ehren- und hauptamtlichen Akteure. Einer von ihnen und ganz herausragend engagiert ist Josef Hell, Palliativmediziner beim CHV in München und seit 30 Jahren in der Hospizbewegung aktiv. Zwei wegweisende Modellprojekte hat Josef Hell in seiner Heimatregion Mühldorf am Inn auf den Weg gebracht: eine Palliativ-WG und ZiB: Zeitintensive Betreuung. Was steckt dahinter? Das erklärt Josef Hell hier!
ZiB: mehr Zeit für sterbende Menschen
Josef Hell (zum Porträt) erlebte es im engsten Umfeld mit. „Ein schwer krebskranker alter Mann zog ins Pflegeheim, gemeinsam mit seiner demenzkranken Frau. Er klagte über die `Fließbandpflege´ und wollte gleich wieder heim. Am fünften Tag hat er sich das Leben genommen. Da habe ich mir gedacht: Das kann doch nicht sein.“ Josef Hell war damals Geschäftsführer des Anna Hospizvereins in Mühldorf am Inn und Landessprecher der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Er wandte sich an die Bayerische Staatsregierung mit einer klaren Forderung: „Wir brauchen mehr Zeit!“ Konkret: Doppelt so viel Pflegezeit für Menschen in den letzten Lebenswochen und zusätzliche Hausarztbesuche.
Gemeinsam mit zwei Kolleginnen aus dem Hospizverein, Verwaltungsleiterin Sabine Brantner und Pflegeleiterin Erika Koch, entwickelte Josef Hell das Modellprojekt „Zeitintensive Betreuung“ (ZiB) für Alten- und Pflegeeinrichtung. Nach ersten Versuchen mit externen Kräften („Es war schwierig, sie in die Heimroutine einzubinden!“) kristallisierte sich das spätere Erfolgskonzept heraus: Pflegekräfte in den Heimen können sich in Palliativpflege (Palliative Care) weiterbilden – und bekommen mehr Zeit, um sich um schwerstkranke und sterbende Menschen zu kümmern.
Spannende Erkenntnis: Zeit spart Geld!
Plötzlich hatten die teilnehmenden Pflegekräfte mehr (oder überhaupt) Zeit für das, was Pflege so wertvoll macht. Eben nicht nur die Grundpflege (waschen, ankleiden usw.), sondern auf den Menschen und seine Bedürfnisse eingehen zu können. Mit Gesprächen, Vorlesen, einer kleinen Runde im Garten, einer Massage, dem beruhigenden Einfach-da-Sein ...
In den Jahren 2015 und 2016 nahmen zwei Pflegeeinrichtungen im Landkreis Mühldorf am Modellprojekt „Zeitintensive Betreuung“ teil; zwei Jahre später lief die erste Pilotphase der Paula Kubitscheck-Vogel-Stiftung an: in sechs Landkreisen und mit 18 Pflegeheimen. 2023 wurden die Erfahrungen im Auftrag des Bayerischen Pflegeministeriums ausgewertet. „93 Prozent statt bislang 64 Prozent der Sterbenden mussten nicht ins Krankenhaus verlegt werden, sondern konnten im Altenheim sterben“, fasst Josef Hell zusammen. „Und es kam auch heraus: Die Ersparnis war höher als die Personalkosten.“
Ein gutes Gefühl für alte Menschen – und ihre Pflegekräfte
Die Zahlen stehen für viele einzelne Menschen. Für alte Menschen, die im Sterben mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erfuhren, die in ihrer vertrauten Umgebung bleiben konnten, weniger unter Einsamkeit und Angst litten. Und auch für die teilnehmenden Pflegekräfte. „Sie sagten zu mir: `Mei, Josef, des war so toll´. Sie konnten sich Zeit fürs Kümmern nehmen und waren hoch zufrieden. Das Modellprojekt hatte durchschlagenden Erfolg in den Heimen.“
Wesentlich weniger Verlegungen ins Krankenhaus nötig
Durch das höhere Zeitbudget im ZiB-Projekt stiegen zwar die Personalkosten. Doch gleichzeitig wurden Einweisungen ins Krankenhaus vermieden – und damit ein erheblicher Kostenfaktor reduziert. Mussten früher 34 von 100 schwerstkranken und sterbenden Menschen aus dem Altenheim ins Krankenhaus verlegt werden, waren es im ZiB-Projekt nur noch 7 von 100.
Bis heute läuft das ZiB-Projekt weiter, nach wie vor spendenfinanziert. Einen Vorteil hatte die Spendenfinanzierung: Der Hospizverein konnte unbürokratisch handeln und das Konzept schnell umsetzen. „Mit den Spenden konnten wir Tatsachen schaffen!“, so Josef Hell. „Unser Hospizverein finanziert als zweiter Arbeitgeber die Zusatzzeit für die Pflegekräfte. So ist die ZiB-Zeit gesichert. Oft ziehen sich die Pflegekräfte sogar ein andersfarbiges Polohemd an, wenn ihre ZiB beginnt. Damit wird sichtbar: Ich mache jetzt zeitintensive Betreuung!“

„ZiB“ steht für zeitintensive Betreuung. Pflegekräfte in Alten- und Pflegeeinrichtungen haben mehr Zeit für Zuwendung und die persönlichen Bedürfnisse von Menschen in der letzten Lebensphase. (Symbolbild)
Der Erfolg ist belegt, nun hoffen alle Verantwortlichen und Beteiligten auf eine Aufnahme in die Regelversorgung. Die Vision: ZiB als Anspruch für Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungen gesetzlich verankern. Und Josef Hell denkt noch weiter: „In Städten wie München gibt es so viele alleinstehende Menschen. Wenn sie sterben, ist Betreuung und Pflege zu Hause oft nur mühsam zu organisieren. Ich hätte oft gern ein Single-ZiB. Ganz niedrigschwellig, damit man einfach mal etwas Wohltuendes für die Menschen machen kann.“
HospizInsel: eine WG für die letzte Lebensphase
Aus einem Zufallskontakt entstand ein weiteres Projekt. Eine Heimatzeitung rief bei Josef Hell an: Bei der weihnachtlichen Spendenaktion sollte auch der Anna Hospizverein bedacht werden, was er sich denn wünsche? „Ich träume schon lange von einer Hospiz-WG“, antwortete Josef Hell. Ob er ein Konzept schreiben könne – bis morgen? Josef Hell setzte sich an den Computer und ließ die Tasten klappern. Am nächsten Morgen druckte er ein Eckpunkte-Papier aus und brachte es dem Verlagschef. „Er sagte: `Ja, des mach‘ ma“, erinnert sich Josef Hell und lacht. Bald darauf standen 250.000 Euro zur Verfügung.
Wie wird ein Anästhesist und Palliativmediziner zum Projektstarter? Im Fall von Josef Hell: mit einem Masterabschluss in Organisationsentwicklung. Während des Studiums vernetzte er sich mit Top-Führungskräften aus Großkonzernen. Eine Win-Win-Verbindung: Der Mediziner vermittelte ihnen, was Menschen fürs Menschsein brauchen. Die Managerinnen und Manger wiederum erklärten ihm, wie man Verantwortliche für bahnbrechende Projekte gewinnt. Auf die eigenen Stärken zu vertrauen: auch das guckte sich Josef Hell von den Business-Profis ab.
Eine Hospiz-WG? Die Adalbert-Stifter Seniorenwohnen (ASW) im benachbarten Waldkraiburg machte mit und stellte Räume zur Verfügung. „Wir bekamen die alte Hausmeisterwohnung und zwei angrenzende Zimmer“, erzählt Josef Hell. „Das ASW ist eine große Einrichtung und hat eigene Handwerker. Und weil uns keine Bürokratie aufhielt, konnten wir acht Monate später eröffnen.“ 2018 war das.
Mit der HospizInsel hatten Josef Hell, der Anna Hospizverein und das ASW ein deutschlandweit völlig neuartiges Angebot geschaffen: eine ambulant betreute Wohngemeinschaft für jeweils vier Schwerstkranke in ihrer letzten Lebensphase, angedockt an eine große Pflegeeinrichtung. Das Angebot richtet sich vor allem an jüngere schwerstkranke Menschen, die zu Hause nicht ausreichend versorgt werden können, für die sich aber die Unterbringung im Altenheim nicht eignet. Jede Bewohnerin und jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer, die Wohnküche ist Treffpunkt für alle.
Personalaufwand: zwischen Pflegeheim und Hospiz
Josef Hell dröselt den Personalschlüssel im Vergleich auf: „Ein Pflegeheim hat 0,45 Vollzeitkräfte auf einen Bewohner. Ein Hospiz 1,6. Die HospizInsel liegt mit 0,9 in der Mitte.“ Mehrmals täglich kommen ambulante Pflegekräfte vorbei; bei Bedarf unterstützt das SAPV-Team des Hospizvereins und/oder eine nächtliche Sitzwache. Angeboten werden außerdem eine ehrenamtliche Hospizbegleitung, Beratung in sozialen Fragen, Seelsorge, Physio- und Entspannungstherapie. Wie das ZiB-Projekt ist auch die HospizInsel weiterhin spendenfinanziert. 60 Euro pro Tag müssen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst für Miete und Verpflegung beisteuern.
Nicht allein, nicht im Heim: Miteinander tut gut
„Als ich einmal in die Wohnküche kam, saß dort eine 81-Jährige; sie hatte Lungenmetastasen und litt an Atemnot. An ihrer Seite war eine 63-Jährige, auch sie mit Lungenkrebs, und hat sie getröstet. Diese Dynamik zwischen den Bewohnern hatte ich vorher gar nicht auf dem Schirm“, gibt Josef Hell zu. „Aber sie macht Sinn. Viele schwerstkranke Menschen fragen sich: `Was bin ich noch wert?´ Die WG schafft Raum für Begegnungen und für gegenseitige Unterstützung. Anderen zu helfen, selbst in der eigenen letzten Lebensphase, stärkt das Selbstwertgefühl.“
„Die WG schafft Raum für Begegnungen und für gegenseitige Unterstützung. Anderen zu helfen, selbst in der eigenen letzten Lebensphase, stärkt das Selbstwertgefühl.“
Von zeitintensiver Betreuung in der Alten- und Pflegeeinrichtung bis zur Palliativ-WG: Akteure wie Josef Hell entwickeln immer wieder neue Ideen für das eine große Ziel: mehr Lebensqualität für schwerstkranke und sterbende Menschen. Leistungen wie die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) werden (auf ärztliche Verordnung) von den Krankenkassen übernommen. Viele andere Angebote sind spendenfinanziert. Mit einer Spende können Sie Hospizvereine vor Ort fördern und auch die Bayrische Stiftung Hospiz unterstützen.