Mutig und liebevoll
Ja, das ist auch eine Geschichte vom Abschiednehmen und vom Traurigsein. Aber vor allem: eine Geschichte von sehr viel Liebe. Liebe, die verbindet, stärkt und beglückt erlebte Anna A. in ihrer Familie, immer, unbedingt. Das Kraftzentrum der Liebe waren ihre Großeltern. Als erst die Oma sterbenskrank wurde und zwei Jahre später der Opa, war für Anna ganz klar, dass sie an ihrer Seite sein würde, mutig und liebevoll.
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Eine starke Familie
Das Haus von Anna A.s Großeltern stand immer offen. „Jeder konnte zu ihnen kommen, es war ein sehr heimeliges Gefühl“, erinnert sich die Studentin. Mit ihrem Bruder verbrachte sie als Kind fast jedes Wochenende bei Oma und Opa. Eine behütete, fröhliche Zeit, ganz unbeschwert. „Meine Großeltern waren relativ jung, wir konnten viel gemeinsam machen.“ Annas Oma war gelernte Fotografin, hatte ein Auge und ein Händchen für Kunst. Mit ihr malte, spielte, kochte und backte Anna; der Opa radelte und sportelte gern mit den Kindern.
Schon mit Mitte 50 war Anna A.s Großmutter zum ersten Mal an Krebs erkrankt. Sie erholte sich. Doch der Krebs kehrte zurück, befiel immer mehr Organe, auch die Harnröhre und Blase. Die Großmutter stand eine schwierige Operation durch; ein künstlicher Blasenausgang musste gelegt werden. „Das war besonders schwer für sie zu akzeptieren“, erinnert sich Anna A. „Aber sie hat das bravourös hinbekommen. Und sie hat sich nie beschwert. Sie ist sehr offen damit umgegangen.“ Die Haltung der Oma half ihrer Enkelin, ebenso offen zu reagieren. „Sie war derselbe Mensch für mich wie früher.“
Der letzte gemeinsame Kuchen
Dann breitet sich die Krankheit weiter aus, bis in die Bauchspeicheldrüse. Wieder kämpft die Großmutter. OP, Chemotherapie, Bestrahlung. Wieder hoffen. Wieder schlechte Nachrichten. Und diesmal sagt die Großmutter: Schluss jetzt. Sie will keine Bestrahlung mehr.
Eine kurze Zeit lebt die Großmutter daheim ihren Alltag weiter. Doch die Kraft wird weniger und die Schmerzen mehr. Für die Enkelkinder ist sie weiterhin da. Eines Tages, als Anna mal wieder mit der Großmutter backt, strengt es die alte Dame an, viel mehr als sonst. Da ist Oma und Enkelin unausgesprochen klar: Das war nun der letzte gemeinsame Kuchen.

Anna A. im Garten des Christophorus Hospiz Vereins in München. Im Hospizgarten legen Angehörige bunt bemalte Isarkiesel als Erinnerung an Verstorbene ab.
Anna A. ist damals Anfang 20, sie hat eine Ausbildung in der Tasche, studiert inzwischen Architektur. An der Uni besucht sie eine Ringvorlesung, in der es unter anderem ums Sterben zu Hause geht. „Das war total augenöffnend. Ich erfuhr, dass man medizinisch gut versorgt zu Hause sterben kann. Da habe ich dann angeleiert, dass wir eine palliative Betreuung bekommen.“
Familie, Pflegedienst und SAPV: das Netzwerk steht
Die Familie stößt auf den Christophorus Hospizverein München. Eine Fachkraft kommt ins Haus, Julia Knoll (zum Porträt). Sie erklärt der Großmutter und der Familie, was ein ambulanter Hospizdienst leisten kann, beantwortet geduldig alle Fragen und organisiert die Spezialisierte Ambulante Hospizversorgung (SAPV).
Kurz erklärt: Was ist SAPV?
SAPV steht für Spezialisierte Ambulante Hospizversorgung. Dabei kümmern speziell ausgebildete Fachkräfte aus Pflege, Medizin, Sozialer Arbeit, Therapie und Seelsorge um schwerkranke/sterbende Menschen und ihre Angehörigen. Das SAPV-Team arbeitet eng mit Hausärztin oder Hausarzt und dem Pflegedienst zusammen, berät und entlastet. Das Ziel: Schmerzen und belastende Symptome lindern, ein Betreuungs-Netzwerk aufbauen und unterstützen, bei allen Fragen unterstützen. Im Notfall ist das SAPV-Team rund um die Uhr zu erreichen. Gut zu wissen: SAPV ersetzt nicht den Pflegedienst, sondern ergänzt die bestehende Unterstützung mit speziellem Fachwissen.
Hier finden Sie Hospizvereine, stationäre Hospize, Palliativstationen und ambulante Dienste in Bayern: Adressen.
Anna A. studiert und arbeitet in Berlin; alle zwei Wochen kommt sie mit dem Zug nach München: „Um Zeit zu verbringen mit meiner Großmutter und bei der Pflege zu helfen.“ Beides ist für Anna A. selbstverständlich. Und nicht nur belastend, sondern auch schön. Doch ohne den Hospizverein hätte die Familie es nicht geschafft, das bekräftigt Anna A. im Gespräch immer wieder.
Das Sterben kehrt Beziehungen um
Früher hatte die Großmutter Windeln gewechselt, Brei gefüttert, bei den ersten Schrittchen geholfen, sich gekümmert, getröstet. Jetzt brauchte sie selbst Pflege. Vom SAPV-Team lernt Anna, wie man einen kranken Menschen lagert, dreht, wickelt, wäscht. Der eigenen Oma die Windeln wechseln, das kostet Überwindung. Wie hat Anna A. es geschafft? Sie erklärt es so: „Ich habe von meinen Großeltern so viel Liebe erfahren: Es war für mich eine große Ehre, an ihrer Seite sein zu dürfen, als sie gestorben sind. Ich konnte ihnen die Liebe wiedergeben.“
„Ich habe von meinen Großeltern so viel Liebe erfahren: Es war für mich eine große Ehre, an ihrer Seite sein zu dürfen, als sie gestorben sind.“
Sterben ist auch: viele kleine Abschiede
Sterben ist nicht der eine große Abschied, sondern ganz viele große und kleine. Es tut Anna A. weh, als sie ihre Oma zur Toilette begleitet und spürt: Ein weiteres Mal wird die Oma den Weg nicht schaffen. Ein allerletztes Mal geht die Oma durch die Wohnung, mühevoll, würdevoll. Ein letztes Mal streicht sie mit den Händen über die Möbel, die sie vor langer Zeit ausgesucht hat, die Kommoden und Schränke, mit Wichtigem und mit Herzenskrimskrams gefüllt, tausendmal abgestaubt und poliert, der Tisch, um den sich die Familie versammelte, den Lieblingssessel.
„Es war schwer, sie zu begleiten“, sagt Anna A. „Aber meine Großeltern waren wahnsinnige Familienmenschen. Da schiebt man sie nicht zu fremden Menschen ab, wenn es schwierig wird.“
„Wenn es eine Krise gibt, muss man nicht die 112 anrufen. Man hat auch nachts um drei beim Hospizdienst eine Ansprechperson.“
Anna A.s Großmutter hat starke Schmerzen. Über eine Schmerzpumpe kann sie selbst oder ihre Angehörigen schnell wirksame Opiate dosieren. Die Schmerzmittel machen sehr schläfrig und ruhig. Meist dämmert die Großmutter vor sich hin. Kurz vor Weihnachten dann stirbt sie. So, wie sie es sich gewünscht hat, in ihrem Zuhause, ihren Mann und ihre beiden Töchter an ihrer Seite. Anna A. war gerade wieder nach Berlin zurückgekehrt. „Ich bin überzeugt, dass unsere Oma nicht loslassen wollte, während ihre Enkelkinder im Haus waren, dass sie uns den Schmerz nicht antun wollte.“
Unterstützung, auch über den Tod hinaus
Als sie vom Tod der Oma erfährt, setzt sich Anna A. sofort wieder in den Zug. In München erwarten sie Vater und Bruder am Bahnhof. Und zu Hause wartet Hospizbetreuerin Julia Knoll. „Sie ist so ein Wohlfühlmensch, sie hat immer gute Energie mitgebracht. Ich könnte mich auch jetzt noch jederzeit mit Fragen an sie wenden.“
Zwei Jahre später …
Als die Großmutter stirbt, ist der Großvater schon krank. Sein Herz ist sehr schwach, es kann das Blut nicht mehr kraftvoll durch den Körper pumpen. In seinem Körpergewebe lagert sich extrem viel Wasser ein und er hat offene Beine: Wunden, die sich nicht mehr schließen. Wie zwei Jahre zuvor seine Frau beschwert er sich nicht. „Er hat nur gesagt: Ja mei, des zwickt halt a bissl“, erzählt Anna A. und lächelt. Mehrmals muss der Großvater im Krankenhaus behandelt werden. Immer wieder rappelt er sich hoch. „Er war geistig voll da“, erinnert sich seine Enkelin. „Und er hatte einen riesigen Lebenswillen. Ich glaube, er wollte noch nicht gehen.“
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Körperkontakt und körperliche Pflege
Im Winter, es sind gerade Semesterferien, kehrt der Großvater zum letzten Mal aus dem Krankenhaus zurück. Anna A. kommt aus Berlin zu Besuch. „Wir hatten auf ein paar ruhige Wochen gehofft, wir wollten es ihm so schön wie möglich machen. Ich habe ihm jeden Tag den Rücken gewaschen, ihn eingecremt und massiert, ihn frisiert … Er hatte früher nie so gern Körperkontakt. Im Sterbebett hat sich das geändert.“
Mit dem Opa ist die körperliche Pflege für Anna A. anders als bei der Oma. „Ich hatte Respekt davor, weil es ein anderes Geschlecht war. Aber das sind Dinge, die eben getan werden müssen.“ Manchmal erreicht sie ihre Grenze. Als sie einmal allein mit dem Großvater zu Hause ist, muss er dringend zur Toilette. Doch Anna A. allein kann ihn nicht unterstützen. „Da musste er in die Windel machen.“ Momente wie diese kosten beide viel Überwindung und bringen sie noch näher zusammen.
Wenn es kritisch wird, ist das SAPV-Team da
Und dann plötzlich blutet der Großvater aus Mund und Nase, unaufhörlich. Die Familie weiß nicht weiter, hat Angst. Sie rufen den Hospizdienst an, Julia Knoll kommt vorbei. „Frau Knoll hat erklärt, dass Opas Organe nicht mehr funktionieren, dass er jetzt stirbt. Die klaren Worte taten uns gut. Sie hat uns Hilfe zur Selbsthilfe (mehr erfahren) gegeben, uns gezeigt, was wir tun können.“
Anna A. ist jeden Tag bei ihrem Großvater. Doch sie nimmt sich auch Zeit für sich, geht raus. Sie hält auch keine Nachtwachen. Sie tut, was sie aushalten und ertragen kann. „Frau Knoll hat uns immer wieder erinnert, dass wir auch auf uns selbst achten sollen.“ Schließlich verliert der Großvater das Bewusstsein. Am Ende einer intensiven Woche gleitet er hinüber in den Tod.
Blick zurück, traurig und froh
Anna A. hofft, dass ihre Großeltern jetzt wieder vereint sind, irgendwo, irgendwie. Sie denkt viel zurück, an die glücklichen Jahre mit den Großeltern und an die Monate des Sterbens. An das Miteinander in der Familie, in einem der beiden speziellsten Momente des Lebens. An diese entrückte Zeit der Nähe und des Abschieds. Sie trauert und ist froh über ihren Mut, an der Seite von Oma und Opa zu bleiben. Und sie ist dankbar für die vielfältige Unterstützung durch den Hospizdienst, der nicht nur die Sterbenden im Blick hatte, sondern die gesamte Familie. Deshalb hat uns Anna A. ihre Geschichte erzählt. Mit einem weinenden und einem lächelnden Auge.